Schlaglichter 2002

Blick zurück, Blick voraus
Objekt-Digitalisierung: ein neues Standardarbeitsfeld der Bibliotheken

 

(Vortrag von Dr. Hans Zotter, Universitätsbibliothek Graz, gehalten anläßlich der Fortbildungsveranstaltung "Kulturgut digital: Handschriften, Urkunden, Inkunabeln und Nachlässe im Netz" am 01. und 02.07.2001 in Graz)

Wissen ist ein merkwürdiger Besitz. Wenn man es weitergibt, bleibt es dennoch im Besitz dessen, der es weitergegeben hat, im günstigen Falle hat er durch den Akt des Weitergebens zusätzlich noch größere Klarheit über dieses Wissen gewonnen. Wissen vermehrt sich durch die Weitergabe, die Kenntnis, ja schon die bloße Vermutung, dass Wissen existiert, wirkt wie unsichtbare Gravitation.

Wissen ist ein merkwürdiger Besitz, denn kaum ist man in den physischen Besitz einer Information gelangt, beginnt die eigentliche Arbeit, diese auch zu rezipieren, sie einzubauen in das eigene Wissen, sie in Beziehung zu den eigenen Erfahrungen zu setzen: aus Information Wissen zu machen, das zum Handeln befähigt, vielleicht gar Wissen, das als Orientierung in dieser unübersichtlichen Welt taugt.

Bibliotheken werden von den meisten Benützern/Nichtbenützern als Orte erlebt und eingestuft, wo Wissen in langen Speicherregalen lagert und verstaubt, vor allem das alte, angeblich tote Wissen: die Bibliothek als Friedhof, oder auch als hehrer Tempel, den man sich scheut zu betreten, das sind beliebte und oft zitierte Bilder. Am positivsten scheint noch die Metapher Schatzkammer zu sein, wenn auch in diesem Bild die Konnotationen Unzugänglichkeit und Verborgenheit vorhanden sind. Wer einen Schatz hebt, dem stößt etwas Unverwartetes, ein Glücksfall zu, den man nicht jederzeit wiederholen kann.

Die Wirklichkeit ist anders: innerhalb weniger Jahre haben die wissenschaftlichen Bibliotheken zu ihren bisherigen Aufgabenstellungen neue große Arbeitsgebiete besetzt und ausgebaut. Gerade die historischen Bestände eignen sich besonders gut für eine Ehe mit den Webpages, können wir doch zum erstenmal das Dilemma zwischen konservatorischen Rücksichten und Liberalität des Zugangs auflösen.

Die Bibliotheken sind Spezialisten im Bereich des Wissens mit langer Halbwertszeit, und stehen so im Gegensatz zur kurzatmigen elektronischen Information, die zu einem großen Teil aus Redundanzen, Fiktionen und Surrogaten besteht.

Immer wieder wird auch heftig der Wert des langfristig wirksamen Wissens bezweifelt, findet doch gerade auch ein Umbruch im Bildungskanon statt. Die Lehrpläne der Gegenwart haben kaum noch etwas mit denen vor zwanzig Jahren zu tun. Um Platz für das Neue zu schaffen, muss doch wohl ein Großteil des Alten entsorgt werden? Zum Beispiel das Kürzen der Deutschstunden zugunsten der Computerstunden? Andererseits erscheinen zur Zeit gedruckte Ratgeber in großer Zahl, die einem mitteilen, welche Bücher man gelesen haben muss, um einigermaßen als gebildet gelten zu können, und im Fernsehen ist das Bildungsquiz ein Quotenhit.

Die Bibliotheken stehen vor der Aufgabe, nicht nur ihre angestammten Stärken und Potentiale weiter auszubauen, sondern auch im Bereich der elektronischen Medien Gegengewichte aufzubauen, nachvollziehbare und nachhaltige Informationsareale anzubieten. Sie sind schon deshalb dazu geeignet, weil sie als klassische Inhaltsverwalter, content-provider bestens Bescheid wissen in den Arbeitsgebieten Ordnung, Auswahl, Komprimierung und Herstellung von Kohärenzen. Die wesentliche Leistung ist die Redimensionierung der angebotenen Informationsmengen auf das menschliche Maß. Nur so kann der Umwandlungsprozess von Information in Wissen in Gang kommen.

Die historischen Abteilungen der Bibliotheken waren schon immer auch Orte der Forschung, in denen das schriftliche Kulturerbe untersucht und erschlossen, in denen publiziert und das angesammelte Wissen auch in Ausstellungen, Führungen und Lehraufträgen weitergegeben wurde. Etliche Bereiche der kulturhistorischen Buchforschung werden fast ausschließlich von Bibliothekaren wahrgenommen. Dieses in Generationen angesammelte Fachwissen ist nur teilweise in Publikationen öffentlich zugänglich, vieles blieb in lokalen Nachweisen, Katalogen, in privaten Dateien verborgen – nur wenn ein Leser hartnäckig nachfragt, kommt dieses Schattenwissen zum Vorschein.

Dem Auftrag, unser Wissen zu teilen, können wir nun in einem ganz neuen Ausmaß unter ganz neuen Bedingungen nachkommen; wir müssen uns von eingefahrenen Paradigmen des akademischen Wissenstransfers lösen, unsere eigenen Bedingtheit als Forscher und Wissenschafter neu bewerten. Wissenschaftliches Publizieren ist in unseren Breiten mit vielen formalen Normen verknüpft, die einzuhalten sehr ratsam ist – das Bild des selbstlosen Teilens wird im Wissenschaftsbetrieb in der Regel nicht als Orientierung herangezogen.

Seit etwa einem Jahrzehnt arbeiten wir an der Digitalisierung von Metadaten, seit etwa 7 Jahren an der Digitalisierung von Objekten. In dieser Zeit kam es zu einer enormen Intensivierung der Forschung und der Publikationstätigkeit. Die neuen Möglichkeiten haben die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem steirischen Dokumentenerbe merklich angeheizt und ein Ende dieses Interesses ist nicht absehbar.

Aber der Reihe nach: seit mehr als einem Jahrzehnt stehen in zunehmenden Maße digitale Kataloge und Nachweise zu den Beständen der Sondersammlungen zur Verfügung, seit 1994 wurden diese lokalen Verzeichnisse auch in das INTERNET eingespeist. So konnte die Universitätsbibliothek Graz als erste Bibliothek in Österreich ab 1994 ihren Handschriftenkatalog anbieten. Es erwies sich als sinnvoll, als erstes die Metadaten digital zugänglich zu machen, diese überhaupt in eine mediengerechte Form zu bringen. Inzwischen ist daraus einer der wichtigsten und aufwendigsten Arbeitsbereiche der Sondersammlungen geworden, immer weitere Metadaten bereitzustellen – und sie immer wieder auf neuesten Stand zu bringen. Die Publikationstätigkeit der Mitarbeiter hat sich fast gänzlich auf die Homepage verlagert und mittlerweile sind mehr als 6000 Dokumente via Netz abrufbar.

Als weitere Errungenschaften können der Inkunabelkatalog die Faksimilebibliographie und die Dokumentation der steirischen Einbandforschung vorgewiesen werden. Als nächste Arbeitsschwerpunkte stehen nun die Papierforschung und die Fragmentforschung im Mittelpunkt der Anstrengungen. Gerade der letzte Forschungsbereich weist ein Merkmal auf, das bei historischer Forschung leicht verblüfft: ein Ende der Arbeiten ist nicht abzusehen, weil das Forschungsmaterial wächst. Der größere Teil der mittelalterlichen Bücher ist verschwunden und verlorengegangen, aber Spuren dieser Verluste lassen sich nachweisen – die Buchbinder der vergangenen Jahrhunderte waren Sparmeister und haben beschriebenes oder bedrucktes Pergament als Arbeitsmaterial verwendet. Besonders für die innenliegenden, unsichtbaren Teile des Einbandes verwendete man Makulaturen, aber auch für die Einbanddecken wurde das haltbare Pergament gern wiederverwendet.

Ab 1995 mit der sogenannten Objektdigitalisierung, das heißt mit dem Aufnehmen von Handschriften und seltenen Drucken. Die Präsentation von Kulturgut im Netz wurde damals eher als Gag angesehen, als Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit und nicht als Beginn einer langwährenden neuen Form der bibliothekarischen Aufbereitung. Erst Ende 1996 erteilte das Bundesministerium uns einen Forschungsauftrag, der als Pilotprojekt nur einmal das einschlägige Know-how in technischer, konservatorischer, rechtlicher und kommerzieller Hinsicht erarbeiten sollte. Diese Aufträge konnten erfüllt werden, nicht zuletzt weil das Bundesministerium den Auftrag bis Mitte 2001 schrittweise verlängerte und auch das Land Steiermark Gelder zuschoss.

Die Universitätsbibliothek Graz baute in diesem Zeitraum ein modernes Digitalisierungsatelier auf, das speziell die objektschonende Aufnahme wertvollen Dokumentengutes optimierte. Nunmehr können wir nachweislich behaupten, dass der Digitalisierungsvorgang die jahrhundertealten Kodizes nicht stärker belastet, als die normale Benützung im Lesezimmer der Sondersammlungen. Ermöglicht wurde das durch eine Reihe von Optimierungsschritten; als zentrale Verbesserung ist die Entwicklung eines eigenen Spezial-Kameratisches durch unsern Restaurator Manfred Mayer hervorzuheben. Dieser Kameratisch hat sich mittlerweile zu einem Standard-Equipment anderer Digitalisierungszentren entwickelt. Wir lösten uns damit auch von dem Paradigma der "letzten" Konvertierung. Die erste Konvertierung fand ja schon vor dreißig Jahren statt, als unsere Bestände mikro-verfilmt wurden. Die jetzt laufende Konversion wird sicher nicht die letzte bleiben. Ich weiß nicht, welche Erwartungen an ein Surrogatmedium in dreißig Jahren gestellt werden, muss aber auch nicht krampfhaft an alle Eventualitäten denken, die im Lauf der nächsten Jahrzehnte auftreten könnte. Wir schaffen derzeit für den Handschriftenbereich ein ungeheuer praktisches Nutzmedium (und nicht mehr) – wer ein langfristiges Archivmedium sucht, ist mit einem Film noch immer besser beraten.

Nunmehr wird an drei Kameratischen gleichzeitig gearbeitet (und an einem Scannerplatz) und die Digitalisierung sämtlicher mittelalterlicher Kodizes der Sammlung ist die Hauptaufgabe. Meine Grunderwartung ist, dass so lange digitalisiert werden wird, solange es etwas zu digitalisieren gibt. Wenn ein Objekt interessant oder wertvoll genug war, dass es über Jahrhunderte aufbewahrt wurde, ist die Digitalisierung nur eine logische Folge. Die Kosten werden die Digitalisierung nicht verhindern, bestenfalls verlangsamen. Es ist noch keine zehn Jahre her, dass wir uns es nicht vorstellen konnten, dass eines Tages jeder Mitarbeiter in der Bibliothek einen eigenen PC haben würde – die Kosten schienen uns damals als gänzlich untragbar.

Die perfekte Digitalisierung einer Handschrift dauert derzeit etwa eine Woche. Das heißt, dass wir noch über Jahre hinaus mit dieser Arbeit befasst sein werden – und das ist natürlich erst der Anfang. Es ist in meinen Augen nicht sinnvoll, digitalisiertes Material nur offline, nur auf Anfrage bereitzuhalten. Was digital vorliegt, gehört ins Netz. Abstufungen ergeben sich dabei ganz natürlich, da derzeit im Netz nur komprimierte Bildformate sinnvoll sind, unkomprimierte auf CDROM oder DVD kontrolliert angeboten werden können.

Beim Implementieren ins Netz, dem Aufbau eines Dokumentenservers sind wir in Graz stark auf die Mitwirkung des Rechenzentrums angewiesen, das natürlich andere Prioritäten sah, als unserer Handschriften. So liegen nun unsere Handschriften - Digitalisate auf dem Server von ALO in Innsbruck, über 100 Handschriften sind derzeit komplett im Netz.

Denn wenn wir die Handschriften im Netz sichtbar machen, kommt der bereits erwähnte Kanonwechsel zum Tragen. Die bunten Bilder können von den meisten Studenten nur in naiver Weise betrachtet werden, da die nötigen Schlüsselkenntnisse für das Verständnis fehlen. Wie in einem Märchen, sind viele Stufen und Schwellen zu überschreiten, um einen mittelalterlichen Kodex zu begreifen: die Sprache, die Schrift, die verschlüsselte Bild- und Textinformation. Schließlich muss die Komprimierung durch die Wortkürzungen der mittelalterlichen Schreiber aufgelöst werden.

Damit es uns nicht geht, wie dem Türwächter bei Kafka, der das Tor offen hält, aber nichts dazu tut, dass der Besucher den Saal dahinter betritt, muss ein Kulturforschungsportal jede Menge Entrittshilfen anbieten, für alle, die wir erreichen wollen. Müssen wir schon bei der technischen Abwicklung der Digitalisierung mit Jahrzehnten (bei dem gegenwärtigen Arbeitstempo) rechnen, setzt die mediengerechte Aufbereitung einen noch viel höheren Arbeitsaufwand voraus.

Die Aufbereitung der Metadaten in elektronischer Form, die Objekt-Digitalisierung und schließlich, die Präsentation des digitalen Materials, die immer weitergehende Verlinkung der Informationen: das alles sind Arbeitsgebiete, die auf Langfristigkeit angelegt sind, wenn sie nicht überhaupt als Dauerarbeitsbereiche ohne erkennbares Ende anzusehen sind.

Und dass man dabei über die bisherigen formalen Grenzen einer Wissenschaftsdokumentation hinaus greifen muss, wird nicht zu vermeiden sein. Nicht nur unser Wissen über die historischen Dokumente ist zu vermitteln, auch wie der forschende Wissenschafter zu diesen Aussagen gekommen ist, wie die Rätsel der Überlieferung gelöst werden und aus den vielen Einzelerkenntnissen ein stimmiges Mosaikbild entsteht. Resultate und Methoden der Forschung sind didaktisch zu verknüpfen, neben schriftlicher und bildlicher Information sind Interaktion und Animation, Video und Ton Mittel der Wahl. Die aufwendigen Zitier-Apparate werden zu Linksammlungen, die Quellenangaben Verweise auf die Stelle im Netz, wo das digitalisierte Objekt liegt. Die Qualität eines wissenschaftlichen Aufsatzes liegt nicht mehr in seiner Unveränderlichkeit, sondern dass er vom anwachsenden Wissen des Produzenten profitiert - Fehler, Irrtümer und Lücken sind nicht mehr auf dauernde Zeiten festgeschrieben, sondern können tagesaktuell verbessert werden.

Verbindendes Glied aller Dokumentenformen, die nun im INTERNET verschmelzen, ist der Mensch als Rezipient. Seine Bedingtheiten formen Medien und Dokumente nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Traditionelle wissenschaftliche Arbeiten orientieren sich meist nicht an den Rezipienten, die allgemeine Verständlichkeit gilt eher als Makel.

In Graz finden mediengerechte Umsetzungen derzeit vorwiegend im Bereich der CDROM-Produktion statt. Unsere Miniaturen-CDROMS sind hier zu nennen, auch die CDROM "Vernetzungen". Als neuestes Produkt können wir heute die CDROM für die LIBER-Tagung vorweisen, die von Karl Lenger designed wurde.

Digitalisierung ermöglich aber auch ganz andere Publikationsschienen; etwa das kleine Büchlein, dass ihren Tagungsunterlagen beigefügt wurde. Es handelt sich um einen Druck unseres Bestandes, der von uns digitalisiert wurde und von den Geschützten Werkstätten des "Team Styria" gedruckt wurde. Die Übersetzung steuerte Beatrix Koll bei. Wir können mit Hilfe unserer Digitalisierungseinrichtungen preiswerte Nachdrucke eines jeden rechtefreien Buches unseres Bestande in Angriff nehmen.

Wie schon erwähnt, ist die Erforschung der verlorengegangenen Buchbestände, die nur mehr als Fragmente erhalten sind, ein aktueller Schwerpunkt der Sondersammlungen. Abgelöste Fragmente und Fragmente in situ gibt es in allen Sammlungen – der Erschließungsstand ist meist deplorabel. Neben den pergamentenen Handschriftenfragmenten gibt es noch wesentlich mehr Papiermakulaturen, Inkunabeln, Kalenderdrucke, Spielkarten, Neue Zeitungen und Einblattdrucke.

Mit den Handschriftenfragmenten kann man ganze Schattenbibliotheken errichten, verlorene Bestände rekonstruieren. Ein gelungenes Beispiel ist hier die Fragmentseite der Kollegin Koll aus Salzburg, der wir inzwischen in Graz nacheifern.

In Graz wird besonderer Augenmerk auch auf die Urkunden gelegt, die als Buchbindermaterial ein zweites Leben bekamen. Ute Bergner und Hannes Giessauf arbeiten seit längerem an der Edition des Urkundenbestandes und mussten dabei die Erfahrung machen, dass es immer mehr Fragmente gibt, als man anfangs vermutet.

Denn im Zuge der Restaurierungsarbeiten werden immer wieder kleinste Urkundenstreifen sichtbar, die in vielen Fällen zusammengesetzt und wieder gelesen werden können. Aber auf diese Weise können verloren geglaubte Urkundenbestände wiedergewonnen werden und wieder eine Lücke in der steirischen Überlieferung geschlossen werden.

Die hier kurz angedeutete Aufgabenänderung der großen Gedächtnisinstitutionen wie der Universitätsbibliothek Graz ruft natürlich auch mancherlei Kritik auf den Plan. Die Vorstellung von Hybridbibliotheken, wie sie im Nachbarland Deutschland liebevoll gepflegt wird, hat bei den Altbuchverwaltern nicht nur Freunde.

Da sind einmal jene, die den Verlust der Wirklichkeit befürchten, dass niemand mehr in die Bibliothek käme und die Originale benützen würde, wenn erst einmal alles im INTERNET zur Verfügung stünde.

Diese Befürchtung unterschätzt die Attraktion der Bibliothek als sozialen Ort, an dem qualifizierte Gesprächspartner bereit stehen, unterschätzt auch die Attraktion des Originals. Dieses muss auch weiterhin zugänglich bleiben, und nicht in falsch verstandener Fürsorge dem Blick des interessierten Forschers entzogen werden.

Die Mediatisierung eröffnet nur den Zugang, kann aber nicht den wissenschaftlichen Diskurs und die Inspiration des originalen Artefakts ersetzen. Warum wohl besuchen immer größere Menschengruppen Ausstellungen, reisen immer mehr Kulturinteressierte trotz der bunten Bilder in Film und Fernsehen an die historischen Stätten – es ist das Bedürfnis nach dem Unmittelbaren, das die medialen Surrogate nicht wirklich abdecken können.

Es gibt natürlich auch Stimmen, die den allmählichen Schwund des alten Bildungskanons erfreut wahrnehmen und ihn noch gern weiter beschleunigen würden. Jeder, der die moderne Medienwelt mit distanzierter Skepsis betrachtet, gilt vielen schon als verzopft oder reaktionär. Die dauernde soziale Akzeptanz ubiquitärer Medien wird von vielen leichthin als gegeben betrachtet, die alten Vorstellungen von Bildungserwerb werden durch die Utopie der jederzeit verfügbaren elektronischen Speicher ersetzt, die als externes Wissensdepot jeder mit sich herumträgt. Doch wer Informationen nur besitzt, hat sie noch nicht erworben, und große Wissensspeicher, seien es Bibliotheken oder das Netz, können optimal nur von Gebildeten genutzt werden. Nur wer weiß, wie vieles schon gedacht und gewusst wurde, ist einigermaßen davor geschützt, das Rad neu zu erfinden. Wer sich freiwillig von großen Teilen des kollektiven Gedächtnisses verabschiedet, wird jeden seiner Gedanken für neu und originell halten – ein Fortschritt ist das aber wohl kaum.

Das jahrhundertealte Wissen etwa der Drucker und Setzer um Buchgestaltung und Layout ging mit dem Ende des Bleisatzes fast verloren, die Software-Entwickler musste es mühsam wieder exhumieren. Und bis heute kann das Druckbild eines Computersatzes einem professionellen Handsatz nicht das Wasser reichen – eine optimierte Typographie ist eben nicht nur eine ästhetische Leistung, sondern auch eine Anpassung an die Physiologie des Lesers. Moderne Medien mit mangelhafter Ergometrik werden wieder verschwinden.

Die Aufgabe der Bibliotheken ist: bewahren und vermitteln. Sie ist nicht besinnungsloses Horten, nicht unkritisches Skartieren und Wegwerfen. Die in langen Zeiträumen aufgebaute Medienkompetenz der Bibliothekare eignet sich zur Bewertung historischer Inhalte genau so gut wie auch moderner Informationskreationen. Stärker als bisher wird die Aufgabe der Wissenskomprimierung von den Bibliotheken wahrzunehmen sein, die damit ihre Klientel auch stärker an die Institution binden kann. Die ökonomisch orientierten Provider, die aufbereitete Information anbieten, werden sich nur in den gewinnbringenden Segmenten des Marktes aufhalten.

Die wissenschaftlichen Universitätsbibliotheken werden in den nächsten Jahren einen nichtkommerziellen digitalen und analogen Vermittlungsbereich aufbauen, also Dokumente produzieren : das Angebot der Universitätsbibliothek Graz wird sowohl aus gebührenfreien Online-Dokumenten, aus entgeltlichen Offline-Medien und print-on-demand - Produkten bestehen.

Offen ist nur, wie lange es brauchen wird, bis diese Entwicklungen von den Unterhaltsträgern als Standardarbeit akzeptiert werden.

Die Digitalisierung des steirischen Dokumentenerbes zeigt schon recht fortgeschritten, wie die neuen bibliothekarischen Aufgaben bewältigt werden können. Als erste Bibliothek Österreichs haben wir bereits mehrere Hundert unserer Handschriften implementiert, die direkt im Netz konsultiert werden können. Die Handschriftenforschung wird sich dadurch verstäkt auf die Grazer Bestände konzentrieren und eine Intensivierung der steirischen Kulturforschung wird das Ergebnis sein. Dieser Effekt wird umso stärker ausfallen, je mehr Material wir online anbieten können – Forschungsergebnisse wie Objekte. Eine weitere Beschleunigung wird aber nur durch zusätzliche Ressourcen im personellen Bereich erreichbar sein.

Es wird sicher nicht leicht sein, in Zeiten der überbordenden ökonomistischen Bewertung klassischer Non-profit - Einrichtungen, wie der wissenschaftlichen Bibliotheken, neue Arbeitsfelder auch budgetär zu verankern. Das Konzept einer Bibliothek besteht in der Bereitstellung von Dokumenten und in qualifizierter Kommunikation – nicht darin, Geld zu verdienen.

Man könnte durchaus meinen, dass der betriebswirtschaftliche Tunnelblick diverser Ausgliederungsbestrebungen in Wirklichkeit bildungsfeindliches politisches Kalkül ist.

Dem steht der internationale promotion-Effekt für die Kulturlandschaft Österreich entgegen - und gute Werbung kostet Geld.

Um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, welcher Nutzen dem alten Bildungskanon, oder dem in den Spezialmagazinen der Universitätsbibliothek Graz gespeicherten steirischen Kulturgut zuzuschreiben ist: der Nutzen liegt in seiner unverwechselbaren Eigenart, dass wir dieses Kulturgut nicht neidisch verstecken sondern allen interessierten Menschen zugänglich machen, dass wir einen ständigen Diskurs mit den Wissenschaftern wie auch mit allen anderen Interessierten führen. So bleibt dieses Kulturgut lebendig und nutzbar, eigenständig und unverkennbar auch in den unstrukturierten und ortlosen Weiten des INTERNETs.

 

Kontakt und Anmeldung

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